Philosophie der Rattenhaltung und Notfallarbeit

Was hat Notfallarbeit für Farbratten mit Philosophie zu tun?

Es ist 2017 und seitdem ich in die Rattenhaltung wirklich ernsthaft eingestiegen bin sind 12 Jahre vergangen. 11,5 Jahre, seitdem mit Mink und Yukidàma damals die ersten Farbratten aus dem Tierheim München hier eingezogen sind, kurz darauf schon der erste bissige Kastrat und seither nur noch schwierige, kranke oder anderweitig in Not geratene Tiere. Seither konnte ich mich viel Mühe, Zeit, Geduld und Geld (so ehrlich muss man sein) sehr vielen Ratten helfen, die – wenn man sich umschaut und Verständnis für die eigene Arbeit sucht – bei einem Großteil der Menschen verabscheut oder wenn es hoch kommt mit Desinteresse gestraft werden. Ratten, die selten lange leben durften, schon gar nicht so lange wie andere Haustiere, die ja so viel flauschiger, normaler und ohne „nackten“ Schwanz sind. Nein, ich bin noch nicht an der Pest erkrankt.

Zurück aber zur Philosophie. Wenn man sich entscheidet, den Tieren zu helfen, die vermutlich neben Stechmücken in Deutschland die kleinste Lobby haben und selbst von den meisten Tierschutzorganisationen ungewollt sind, bei denen kein Verständnis, Lob oder Spenden zu erhoffen sind, dann muss man eine andere Philosophie vertreten. Sonst wird man einer der vielen großartigen, tierlieben Menschen sein, die allesamt wichtige Wegbegleiter waren und tolle Dinge getan haben… aber leider auch sehr schnell wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Werte ermöglichen es, 10 Jahre später immernoch aktiv zu sein und die eigenen Grundvorstellungen von vernünftigem Umgang mit Notfalltieren nicht verwässern zu lassen.

Grundgedanke 1: Farbratten sind Ratten und als solche lebenswert

Darin steckt so viel, was in meinen Augen unheimlich wichtig aber kaum anerkannt wird. Nun wurden seit den ersten gefangenen Wanderratten seinerzeit keinerlei Gedanken daran verschwendet, dass diese Tiere eine eigene Spezies mit eigenen Bedürfnissen ist. Sie wurden eingesperrt und so gehalten, wie man es gerade brauchte, um sie für irgendeine Quälerei bereit zu halten. Ähnlich lief es auch noch mit den ersten Haltungen in Privathand, wo es schlicht darum ging, eine Ratte zu „haben“, um sie her zu zeigen, herum zu tragen, als Statussymbol. Nun kann man zahlreiche Forschungen lesen, in denen im Laborversuch in kleinen Makrolonwannen getestet wird, was Ratten brauchen, um weniger Stress zu haben… nur glückliche Tiere sind gute Labortiere… oder so. Machen 5cm mehr Wannenlänge etwas aus, fördert eine Trennwand in der Box artspezifische Verhaltensweisen? Um dies zu beweisen werden zahllose Tiere getötet, um Hormonspiegel zu testen und daraus zu beweisen, dass das Tier… glücklicher war?

Farbratten stammen von der Wanderratte ab und selbst wenn sie domestiziert wurden und damit viele Verhaltensweisen und Eigenarten ihrer wilden Vorfahren abgemildert wurden, lässt sich die Verwandtschaft nicht abstreiten, wie die des Hundes vom Wolf. Farbratten besitzen Instinkte, die sie Angst vor Neuem haben lassen und sie erschrecken lassen, wenn die Hand von oben kommt, wie das Maul eines Fressfeindes. Selbst wenn viele Farbratten diese Verhaltensweisen heute nicht mehr so deutlich zeigen haben sie als Ahnen einer Wanderratte ein Anrecht darauf, dass wir ihre arteigenen Bedürfnisse respektieren und kennen. Dies bedeutet nicht, seine Tiere raus zu setzen und sich selbst zu überlassen (auch eine Wildratte würde gerne auf manche abenteuerliche Entdeckungstour durch die Wildnis verzichten, wenn es in ihrem angetrauten Revier ohne Fressfeinde genug zu Fressen gäbe), sondern in Haltung, Fütterung, Umgang und Kommunikation mit den Tieren zu respektieren, dass dieses Tier kein Mensch ist, sondern eben eine Ratte. Und diese besitzt übrigens nur ein Leben, so wie jedes andere Wesen auf diesem Planeten – dabei helfe ich und wer versteht, dass Leben immer wertvoll ist, wird gar nicht erst darüber diskutieren wollen, dass es doch „nur eine Ratte“ ist.

Dieser Grundgedanke erklärt, weshalb ich viele Praktiken der Rattenhaltung nicht tolerieren kann, manche eingestaubten Verhaltenstipps ablehne und versuche, gegen Vermenschlichungen auf Kosten der Tiere anzugehen. Ein Tier ist nicht „böse“, sondern hat Bedürfnisse, die seiner Art entspringen und nicht ausreichend befriedigt wurden.

Grundgedanke 2: Nothilfe darf winzig klein sein, darf aber kein weiteres Leid erzeugen

Wenn Farbratten etwas können, dann sich ziemlich schnell vermehren, wenn sie in die falschen Hände geraten sind. Und leider sind sie das meistens, in einem Großteil der Farbrattenhaltung findet Vermehrerei statt, sei es in Labors, Futtertierzuchten, Zooladenproduktionsstätten oder hübscher Verpackt in Laienzuchten (nichts anderes ist alles außerhalb von Labors), die natürlich ausschließlich auf Gesundheit und Verhalten züchten… natürlich nur besondere Farben und Lockenfell mit diversen Behinderungen, aber wer will da schon so kleinlich sein. Ein streng gehütetes Geheimnis der Züchterschaft ist ja, dass Inzucht bei Ratten nicht automatisch zu großen Problemen führt. Ganz im Gegenteil, es ist gängige Praxis und wird in Labors standardmäßig über 20 Generationen und mehr gemacht, um besonders reinerbige Tiere zu erzeugen. Wir haben schon diverse Großnotfälle betreut, wo schonmal 300 Ratten aus einer Handvoll Ursprungstieren entstand. Alles wundervolle, normal gesunde und hübsche Tiere, die normal alt wurden. Nur: Es wurden 300! Wo immer vermehrt wird, wird daran gearbeitet, dass es immer genug Arbeit für Menschen wie mich gibt, denn Notfallratten wird es immer geben und immer wird es solche geben, die in Tierheimen sterben müssen, weil sich niemand für sie interessiert hat. Solange dies so ist – also immer – muss Nothilfe nachhaltig arbeiten, also die Vermehrerei beenden wo sie vorgefunden wird – ansonsten ist sie zweckfrei und bringt nur neue Notfallratten in Umlauf, während die nächsten bereits produziert wurden.

Folglich lehne ich eine Hilfe bei all diesen Quellen ab. Ebenso bei Menschen, die Geschlechtertrennung nicht auf die Reihe kriegen, aber trächtige Weibchen oder beiderlei Geschlechter behalten wollen. Oder Mitleidskäufen, Wiederholungstätern oder „Ein dünnes Holzbrett als Trennwand zwischen Weibchen und Männchen hat sonst doch immer gereicht“-Haltungen. Natürlich berate ich so gut es geht. Dieses Prinzip verstehen leider die wenigsten, die sich nicht damit beschäftigt haben, da es wohl zu viel Mathematik ist. Da geht es nicht ums Herz, das sagt, rette die eine Ratte. Sondern das ist die Moral der Mathematik, die sagt, dass jede Ratte mehr im Notfallkreislauf es den anderen schwerer macht und bei solchen Fällen Platz macht für eine neue Ratte, die wieder den selben Mist erleben muss – durch meine Schuld! Man könnte die dann auch aufnehmen… und die nächste… und nächste… die alle wegen mir nachrücken und das durchmachen mussten.

Wichtiger Aspekt des weiteren: Grenzen kennen. Leider werden viel zu oft tierliebe Menschen, die helfen wollten, selbst zum Ursprung des Übels. Wenn man nur ein Rudel halten kann, dann hilft man eben nur einem Rudel und nicht zwei, wenn man dann beide nicht mehr ausreichend versorgen kann. Hilfe ist super, muss aber aus Schutz der eigenen Tiere sinnvoll dosiert werden. Schutz der eigenen Tiere heißt, nur so viele aufnehmen, wie man artgerecht unterbringen, versorgen, tierärztlich behandeln und zur Not auch länger behalten kann. Dies schließt auch die Notwendigkeit der Quarantäne neuer Tiere ein und der kritischen Betrachtung bei verschiedenen Geschlechtern in einem Haushalt.

Und nicht zuletzt darf Nothilfe den Helfer nicht überlasten. Eigene Grenzen kennen ist wichtig, Nothilfe darf nie unüberlegt und allzu emotional geschehen. Wir freuen uns über viele Helfer, die keine „Strohfeuer“ sind. Die sich langsam reinarbeiten und uns lange erhalten bleiben.